Zwischen Chemnitz und Burgstädt: Teil VI „Wittgensdorf oberer Bahnhof“ (aktualisiert: 12/2017)

Der zu Beginn des 15. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnte Ort Wittgensdorf ist seit 1999 ein Stadtteil von Chemnitz und verfügte zwischen 1902 und 1998 über drei Bahnstationen. Den Haltepunkt Wittgensdorf Mitte (vormals Bahrmühle) haben wir in Teil V kennengelernt.

Der erste Bahnhof von Wittgensdorf (seit 1927 hat er den Zusatz „ob Bf“) liegt am Kilometer 51,58 der Strecke Neukieritzsch – Chemnitz (KC). Er entstand mit dem Bau der Strecke im Jahr 1871 und ist seit jeher auch Endpunkt (km 6,68 LW) der Stichstrecke von Limbach (Sachs). Die Limbacher Strecke (seit 1913 verlängert bis Oberfrohna) mündet im Norden von Westen her in den Bahnhof ein.

Der obere Bahnhof befindet sich am Scheitelpunkt der Neukieritzscher Strecke (350 m). Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Station stetig erweitert worden. Oft wurden Güterzüge bis hierher durch Schiebeloks unterstützt. Um diese vor der Rückfahrt drehen zu können, errichtete man 1894 eine handbediente 11,6-m-Drehscheibe. 1895 entstanden die beiden Stellwerke. Bis 1924 hatte der Bahnhof eine eigene Bahnmeisterei. Deren Draisine war in einem Schuppen untergebracht, welcher auf dem Schienenweg nur über die Drehscheibe erreichbar war. Das zweite Streckengleis in Richtung Burgstädt existierte nur von 1895 bis 1946. In Richtung Chemnitz wurde es 1973 wieder aufgebaut. Der Bahnhof ist also seither auch Überleitstelle. 1962 waren noch 51 Eisenbahner im oberen Bahnhof beschäftigt. Die Stellwerkstechnik wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre (teil-)modernisiert. Die Befehlsstelle des Fahrdienstleiters wanderte vom Empfangsgebäude in das Stellwerk 2 an der Küchwalder Ausfahrt. Die Formsignale wurden durch Tageslichtsignale (Hl) ersetzt. Eine örtliche Aufsicht gab es noch bis August 1992.

Seit der Umstellung auf elektronische Fernsteuerung (ESTW seit Ende 2005) verfügt der Bahnhof noch über drei durchgehende Gleise und sechs Weichen (davon eine Handweiche). Ein mit Betonplatten versehenes Stumpfgleis (in Lage der ehem. Gleise 11 und 12) dient der Verladung von Transformatoren für das Zentrale Umspannwerk Löbenhain. Die Limbacher Strecke ist noch bis Hartmannsdorf als Bahnhofsnebengleis befahrbar.

Das aus der Anfangszeit stammende, später erweiterte, Empfangsgebäude ist heute dem Verfall preisgegeben und steht zum Verkauf. Der Mittelbahnsteig wurde 1999 eingekürzt, das 1908 errichtete Bahnsteigdach erfüllte bis Dezember 2017 seinen Zweck. Seit Jahren war eine Verlegung der Reisendenstation (Außenbahnsteige nahe der Straßenunterführung Obere Hauptstraße) im Gespräch, welche nun von Oktober bis 15. Dezember 2017 vollzogen worden ist.

Am 15.12.2017 um 13:00 Uhr ging der neue Haltepunkt an der Oberen Haupstraße offiziell in Betrieb. In den ersten drei Tagen war zunächst nur der Außenbahnsteig am Streckengleis in Richtung Küchwald in Betrieb. Beide Bahnsteige sind nur über lange Treppen zugänglich. In Zeiten vielgepriesener „Barrierefreiheit“ sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss.
Das Befehlstellwerk 2 wird von einem „Leerkalk“ nach Blankenburg/Harz, gezogen von 232 411, passiert (11/2004). Diese „Stellerei“ entstand 1895 und erfüllte 110 Jahre lang ihren Zweck. Rechts ist Gleis 1a mit der Kopf- und Seitenladerampe zu sehen.
Selbe Stelle im Oktober 2017: Das Stellwerk wurde bereits 2005 abgerissen. Die neuen Bahnsteige sind noch in Arbeit.
Auch der Güterboden stammt aus den Anfangsjahren. Nach Veränderungen des Gleisplanes führte das Streckengleis der LW unmittelbar am Güterschuppen entlang. Im November 2012 wurde er schließlich abgerissen. 233 572 bringt Talns-Wagen für die Gipsverladung nach Küchwald (2/2011).
Um den markanten Wasserturm der Gießerei anno 2017 noch aufs Bild zu bekommen, muss man einige Meter zurücktreten. Neben dem Regionalexpress der Mitteldeutschen Regiobahn fällt außerdem das neuzeitliche Stellwerk ins Auge, der physische Bedienplatz befindet sich in Geithain (7/2017).
Als an einem Wintermorgen Mitte der 1980er Jahre die Altbau-50 2740 in „Wio“ mit einem Nahgüterzug angekommen war, existierte der Mittelbahnsteig noch auf ganzer Länge. Bis zum Umbau 2005 war von Gleis 2 auch eine Fahrstraße nach Limbach möglich. Im Zugverband sind Gaskesselwagen eingereiht, wie sie noch heute nach Hartmannsdorf verkehren. Noch ist der Bahnhof mit Formsignalen ausgestattet.
Der Mittelbahnsteig wurde 1998/99 auf diese Länge eingekürzt. Die in Teil I beschriebenen Bauarbeiten an der “Klapperbrücke” machten “Wio” für einige Monate zum Wendepunkt für Reisezüge von Leipzig her. Während 628 592 als RE auf die Rückfahrt wartet, fährt 204 605 gerade von Hartmannsdorf kommend nach Küchwald aus (10/2003).
An Stelle der 2005 entfernten Nebengleise wurde ein Erdwall aufgeschüttet. Dieser diente gern als Fotostandpunkt, ist aber mittlerweile stark von der Natur vereinnahmt worden. 612 130 und 612 106 swingen nach Leipzig durch (1/2012).
Schon 48 Stunden nach Schließung der alten Reisendenstation zeugt nahezu nichts mehr vom Mittelbahnsteig in Höhe Empfangsgebäude.
My beautiful picture
Der Blick in die Gegenrichtung (Norden) im November 2008. Noch existiert die Bahnsteigunterführung.
Noch vor der Schließung der alten Reisendenstation wurde der Großteil des Mittelbahnsteiges abgetragen. Am 14.12.2017 war der alte Fußgängertunnel gut einsehbar.
219 136 fährt mit einem Nahgüterzug aus Limbach (Sachs) am Hausbahnsteig ein (1994). Unter dem 1899 errichteten, noch mit Oberlicht ausgestatteten, Vordach ist ein VW-Kleinbus erkennbar.
Das Empfangsgebäude wuchs etappenweise. Der vordere 2,5-etagige Flügelbau entstand 1872, der Mittelbau war zunächst einstöckig. Der nördliche, schmalere Flügelbau entstand um die Jahrhundertwende (1900), der südstirnseitige flache Anbau für den Fahrdienstleiter 1950. Ein 628.4 fährt von Oberfrohna kommend am Hausbahnsteig ein (4/1999).
Verlassen und zugenagelt präsentiert sich das Gebäude im Oktober 2008. Im Erdgeschoss befanden sich einst u.a. nach Klassen getrennte Wartesäle und ein Bahnhofsrestaurant. Eine Übergabe mit Gaskesselwagen aus Hartmannsdorf rollt ein. Die Verstärkungen am Gleis verraten die Lage der damals 100 Jahre alten Fußgängerunterführung. Dies sollte sich aber bald erledigen, denn …
… seit 2010 ist der Tunnel gesperrt bzw. mittlerweile verfüllt worden. Wie im 19. Jahrhundert passieren die Reisenden nun wieder niveaugleich die Gleise 1 und 2. Ein Sicherungsposten sperrte den Überweg bei Fahrten in Richtung Küchwald/Hartmannsdorf ab, und sorgte im ansonsten unbesetzten Bahnhof noch für etwas „Leben“. Dieses Provisorium endete nun zum 15. Dezember 2017.
Die Tage der alten Bahnsteige waren im Januar 2017 bereits gezählt. Das Beamtenwohnhaus blieb erhalten, steht jedoch gegenwärtig leer.
Mit der Aufgabe des Reiseverkehrs nach Limbach am 27.05.2000 ist der Hausbahnsteig überflüssig geworden. Sporadisch wird das Großtanklager Hartmannsdorf auch von Ganzzügen angesteuert. Im Juni/Juli 2017 war dies häufig der Fall. Ein Kopfmachen der Güterzüge in Wittgensdorf ist nicht mehr möglich. Die Züge von Hartmannsdorf/Burgstädt her müssen immer bis Küchwald durchfahren.
Die letzten Zuckungen in „Alt-Wio“, 14.12.2017. Der Hausbahnsteig ist schon weg.
1994 hielt 202 383 mit einem kurzen Limbacher Gmp Vormittagsruhe auf einem der beiden nördlichen Stumpfgleise. Ebenfalls zu sehen sind die 2005 zurückgebauten Weichenverbindungen. Der bis November 2017 noch auf ganzer Länge vorhandene Hausbahnsteig bietet mittlerweile Fläche für ein Birkenwäldchen.
Zwischen 2014 und 2017 erreichten mehrere Trafotransporte den oberen Bahnhof, um dann per Straße zum ZUW Löbenhain (Röhrsdorf) zu gelangen. Aufgrund der Lademaßüberschreitung verkehrten die Transporte zumeist während der Nachtruhe. Am noch jungen Morgen des 22.10.2016 hat 232 587 gerade mit einem Schwertransport „Wio“ erreicht. Das links sichtbare Wirtschaftsgebäude stammt von 1872.
Die vorerst letzte Verladung fand im April 2017 statt. Am 6. April wurden die Tragschnabelwagen für die Abreise vorbereitet. Bis 2003 befanden sich an dieser Stelle zwei Stumpfgleise. Das Ladegleis wurde nötig, da die Limbacher Strecke durch den Autobahnbau unterbrochen wurde und das Umspannwerk nicht mehr direkt angefahren werden kann.
Im April 2000 fährt ein 628.4 in Richtung Limbach aus. Ein Großteil der Gleise liegt bereits brach, ist aber noch angebunden.
Die selbe Stelle 17 Jahre später: Ein RE 6 fährt auf dem Richtungsgleis nach Leipzig durch. 294 576 steht auf dem durch Gleissperre gesicherten Ladegleis.
Am nördlichen Bahnhofskopf ist der Niveauunterschied zwischen Limbacher und Neukieritzscher Strecke schon deutlich. Links ein sächsisches Wärterhaus, rechts das Wärterstellwerk 1 (10/2001). Auf der Freifläche im Vordergrund lag das nach dem II. Weltkrieg demontierte Gleis 4.
Die nahezu selbe Stelle im Juli 2017: Die Ausfahrsignale gen Burgstädt sind nach vorn gewandert. Das W1 wurde 2005 abgerissen, während das Wärterhaus an der LW noch bewohnt ist. Rechts davon ist das Rangiersignal nach Hartmannsdorf zu sehen. Hybridwagen vom Typ „Citylink“ sind jetzt für den Nahverkehr zwischen Burgstädt und Chemnitzer Innenstadt zuständig.
Betrachten wir zum Abschluss noch das W1 aus der Nähe. Es hatte eine reine Zustimmungsfunktion (abgesehen von Rangiersignalen). 628 592 fährt am 20.10.2003 in Richung Leipzig aus. Nach wie vor wird die Strecke hier eingleisig.

Ein herzlicher Dank an Heiko Vogler für die Bereitstellung von drei Aufnahmen aus seinem Archiv.

KC = sächsisches Kürzel der Strecke Neukieritzsch – Chemnitz (heutige KBS 525)

LW = sächsisches Kürzel der Strecke Limbach (Sachs) – Wittgensdorf ob Bf (zuletzt KBS 526)

Siehe auch: Wittgensdorf ob Bf auf sachsenschiene.de (Jens Herbach)

Steffen Kluttig (2006). Schienenverbindungen zwischen Chemnitz und Leipzig. Die Eisenbahnstrecken Kieritzsch – Chemnitz und Leipzig – Geithain. Bildverlag Böttger GbR.

Neben- und Schmalspurbahnen in Deutschland: Limbach – Wittgensdorf/Oberfrohna. GeraMond: 2015 (Autor: Stephan Häupel).

Verein Sächsischer Eisenbahnfreunde e.V. (Hrsg.). 125 Jahre Eisenbahn. Borna – Narsdorf – Wittgensdorf – Chemnitz. Rochlitz – Narsdorf – Penig. Limbach – Wittgensdorf. 1872 – 8. April – 1997. Festschrift. 1997.

© 2017 MBC

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