Kohle für Chemnitz – die Rolle der Eisenbahn für das Heizkraftwerk Chemnitz Nord, Teil 1

Vorwort

Für die Gewinnung und Erzeugung von Wärme und Elektrizität besaß die sächsische Großstadt seit 1961 ein Heizkraftwerk nördlich des Stadtzentrums. Zwanzig Jahre später entstand benachbart ein zweites Heizkraftwerk, um den stetig steigenden Energiebedarf zu decken und neue Wohngebiete mit Fernwärme versorgen zu können. Am 18. Januar 2024 endete mit der Umstellung vom einst wichtigsten Energieträger Rohbraunkohle auf Erdgas auch die Ära des Anschlussbahnbetriebs für das Chemnitzer Heizkraftwerk. Dies ist Anlass genug, sich einmal ausführlich retrospektiv mit dem Thema Heizkraftwerk Chemnitz Nord und seiner Eisenbahn zu befassen.

Insbesondere dieser erste Teil der geplanten Reihe setzt den Schwerpunkt auf die Historie des Heizkraftwerks selbst bzw. Chemnitz‘ Energiegewinnung im Wandel der Zeit. Dabei können technische Details aber nur grob und lückenhaft thematisiert werden, um den Rahmen (und die Kenntnisse des Autors) nicht zu überlasten. Für ein umfangreicheres Studium der Kraftwerkstechnologie empfiehlt sich das Literaturverzeichnis, insbesondere der verlinkte 360°-Rundgang, wo man virtuell das Heizkraftwerk Chemnitz Nord II besichtigen kann!

[1] Der rund 300 Meter hohe „Lulatsch“, der seit 2012 bunt ist, prägt das Stadtbild und ist auch Bestandteil zahlloser Eisenbahnbilder. Am Nachmittag des 15. März 2013 genießen wir wieder einmal den Panoramablick in Chemniz-Borna-Heinersdorf, u. a. mit Blick auf Chemnitz-Furth und sein Heizkraftwerk. 266 029 befördert einen Leerkohlezug in Richtung Tagebau Profen.

Irrungen und Wirrungen bei der Verortung

In den Medien werden die Bezeichnungen und Verortungen für bestimmte Anlagen sehr oft falsch dargestellt, daher sei hier noch einmal Folgendes klargestellt:

  1. Das Heizkraftwerk Chemnitz Nord (I und II) befindet sich vollständig im Bereich des Stadtteils Chemnitz-Furth. Heizkraftwerk Küchwald, Heizkraftwerk Glösa = falsch
  2. Es gibt in Chemnitz einen Stadtpark namens Küchwald, jedoch keinen Stadtteil Küchwald! Diesem Umstand zum Trotz heißt der Bahnhof Küchwald seit 9. Dezember 2018 – seit er einen Haltepunkt hat – Chemnitz Küchwald (ohne Bindestrich, da kein Stadtteil).

Vorgeschichte

Ende des 19. Jahrhunderts war der Siegeszug der Elektrizität zur Bewältigung des Alltags, z. B. zu Beleuchtungszwecken, in allen Bevölkerungsteilen spürbar und weckte Begehrlichkeiten. Ein im wahrsten Sinne leuchtendes Beispiel dieser technisch-industriellen Revolution war die Erfindung der Kohlefaden-Glühlampe, die Thomas Alva Edison und seinem Forscherteam 1879 gelang und im Folgejahr international für Furore sorgte.

Chemnitz‘ erstes Elektrizitätswerk

Auch die Chemnitzer Bürger erkannten die Zeichen der Zeit und ihnen sollte „ein Licht aufgehen“. Doch zunächst benötigte man einen immensen Apparat an Infrastruktur. Nach Verhandlungen der Stadtherren, u. a. mit AEG Berlin und Siemens & Halske, entstand ab 1893 ein Elektrizitätswerk, das ab Juli 1894 regelmäßig Strom lieferte. (Im Folgenden oft mit der Kurzform E-Werk bezeichnet.) Die heutigen Straßenführungen waren damals noch nicht existent! Um die Lage des ersten E-Werks aber aus heutiger Sicht verständlich zu machen: Das Gelände wird heute umschlossen von der Müllerstraße im Norden, dem Fluss Chemnitz im Osten, der Georgstraße im Süden und der Nordstraße im Westen.

Vorausschauend wurde seinerzeit auf Dreiphasenwechselstrom gesetzt und eine Erzeugerspannung von 2000 Volt gewählt. Die Lage des E-Werks wurde u. a. mit der Nähe der Chemnitz und des Schloßteichs begründet. Über den verlegten Ablaufgraben des Schloßteichs konnte das Wasser zur Kühlung der Abdampfkondensation genutzt werden. Die Kosten für das Werk trug die Stadtgemeinde, für den Betrieb zeichnete die ersten zehn Jahre Siemens & Halske verantwortlich, ehe die Stadt dies selbst übernahm. Frühzeitig erfolgten u. a. 1895, 1899 und 1904 Erweiterungen des Werks. Der Strombedarf boomte, 1909 ging die dritte Dampfturbine mit einer Leistung von 3,0 Megawatt in Betrieb. Zum seinerzeitigen Wahrzeichen der Stadt – ähnlich wie der „Lulatsch“ heute – avancierte der Heiligabend 1913 eingeweihte 100 Meter hohe Schornstein. 1928 folgte der Zweite. War das Werk zunächst lediglich als Lichtstromwerk konzipiert, mauserte es sich schnell zum richtigen Kraftwerk.

[2] Der Blick von der Nordstraße in Richtung Nordosten auf das E-Werk ca. 1914, noch ohne Eisenbahnanschluss. (EVS, 1991)
[3] Ein Teil der Anlagen des Elektrizitätswerkes an der Nordstraße war Jahrzehnte nach dessen Schließung noch vorhanden. Am 12. Dezember 2002 blicken wir von der Müllerstraße in Richtung Süden und erkennen, dass der Abbruch der Rudimente begonnen hat: Ein Pförtnerhäuschen samt Schranke im Vordergrund ist schon beseitigt worden.

Für die Versorgung der Straßenbahn mit Elektrizität entstand ab 1909 ein Umformerwerk am Getreidemarkt, das das E-Werk als Bezugsquelle nutzte. Dieses ersetzte ab 1914 vollständig das erste Bahnkraftwerk von 1893/97 in der Aue (zwischen Falkeplatz und Annaberger Straße), das den Fahrstrombedarf des expandierenden Liniennetzes nicht mehr abdecken konnte.

[4] Das 1913 fertiggestellte und 1929 erweiterte Gebäude des Umspannwerks mit unterirdischem Batterielager zur Stromversorgung der Straßenbahn am Getreidemarkt Ecke Theaterstraße wurde ab 2010 umfassend saniert und dient seit 2012 als Jugendherberge.

Ab 1930 die erste Fernwärmeversorgung

Der Beschluss der Stadtverordneten, eine Fernwärmeversorgung zu errichten, datiert auf den 11. Oktober 1928. Nicht zuletzt sollte die Luftqualität dadurch verbessert werden, dass nicht mehr jeder seinen eigenen Schornstein benötigt.

Das erste öffentliche Gebäude, das mit Fernwärme beliefert wurde, war ab 1. März 1930 das neu errichtete Hotel Chemnitzer Hof. Es folgten u. a. das Stadtbad und das Opernhaus als Fernwärmekunden. Als Wärmeträger wurde auf Heißwasser gesetzt, da dieses sicherer und effizienter zu transportieren ist als Dampf.

[5] Das Walzenwehr nahe der Georgbrücke wurde als wasserbauliche Maßnahme im Zuge der stetigen Leistungssteigerung des E-Werks errichtet. Als technisches Denkmal blieb es erhalten. Das benachbarte Stadtbad war ab 1935 einer der ersten Fernwärmekunden.

Aufgrund von Havarien und Kriegszerstörungen wurden die Anlagen immer wieder erweitert oder modifiziert. Um 1950 erfolgte die Brennstoffumstellung von Steinkohle auf Braunkohlenbrikett. Trotz alledem hatte das Werk seinen Zenit längst überschritten. Dem Neuaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg mit fernheiztechnischer Erschließung war das E-Werk nicht mehr vollumfänglich gewachsen. Mitte der 1950er-Jahre reiften die Pläne für ein neues Heizkraftwerk. Am 3. Januar 1963 stellte das Kraftwerk an der Müllerstraße/Nordstraße seine Fernwärmeversorgung ein, da seither das neue Heizkraftwerk Chemnitz Nord diese Aufgabe vollständig übernahm. Am 22. Februar 1969 um 9:06 Uhr wurde die Maschine 5 vom Netz getrennt – das unwiderrufliche Betriebsende für das E-Werk nach 75 Jahren!

[6] Einige Relikte des E-Werks an der Nordstraße hielten sich bis in das Jahr 2005. Im April’05 geht es ihnen – 36 Jahre nach der Stilllegung – endgültig an den Kragen.

Die Rolle der Eisenbahn für das E-Werk

Die Kohle für das E-Werk musste in den ersten beiden Jahrzehnten vom Kohleumschlagplatz in Chemnitz Hbf (nahe der heutigen Sachsen-Allee) mittels Pferdefuhrwerken zum Werk transportiert werden. Im Weltkrieg führte der Pferdemangel zur Errichtung einer Feldbahn von der Nordstraße zum Bahnhof Küchwald. Kamen zunächst Dampflokomotiven zum Einsatz, stellte man diese schmalspurige Verbindung später gar auf Oberleitungsbetrieb um! Dies währte bis 1941. Erst zu diesem Zeitpunkt löste ein regelspuriges Anschlussgleis das Feldbahnprovisorium ab. Das neue Industriegleis führte von der Ladestelle Furth – quasi als Verlängerung der WbCF-Linie – entlang der Chemnitz über die Müllerstraße direkt ins Werk. Der Bahnübergang Müllerstraße war mit einer doppelschlägigen Vollschranke gesichert.

[7] Der Zustand der Bahnanlagen in den 1940er-Jahren als Draufsicht.
[8] Der Blick in Richtung Norden auf das Anschlussgleis, das sowohl die Sächs. Webstuhlfabrik A.G. vormals Louis Schönherr (später VEB Webstuhlbau Karl-Marx-Stadt als Teil des Kombinat Textima) als auch einst das E-Werk mit der Ladestelle Furth bzw. dem Bahnhof Glösa verband. Mit dem Bau des HKW Chemnitz Nord II verschwand die Ladestelle Furth, nicht aber der Anschluss der Schönherrfabrik. Nur mussten dessen Bedienfahrten nun das Kraftwerksgelände passieren. Im April 2002 war das südliche Gleistor noch vorhanden. An dieser Stelle befand sich laut Gleisplan [7] einst der Anschluss Bauhof. Im Hintergrund ist die ehemalige Werklok 5 (vormals 3; LKM 261420) der Stadtwerke zu sehen. Sie wechselte 1992 vom Gaswerk in Altchemnitz an der Saydaer Straße zum HKW. Drei Jahre später wurde sie abgestellt.

Heizkraftwerk Chemnitz Nord

Das E-Werk an der Müllerstraße/Nordstraße war veraltet und dem steigenden Bedarf nach 1950 nicht mehr gewachsen. Um Neubauten und Wohngebiete umweltfreundlich zu beheizen, begann 1955 die Projektierung eines neuen Heizkraftwerkes auf Basis der Wärme-Kraft-Koppelung. Der Standort wurde wieder nördlich des Stadtzentrums und nahe der Chemnitz gewählt. In Furth befand sich noch weitgehend unbebautes Areal, das jedoch als Kleingartenanlage genutzt wurde.

Heizkraftwerk Chemnitz Nord I (1961-1997)

Der Bau des Werkes umfasste vier Dampfkessel mit je 125 Tonnen pro Stunde Leistung und drei Entnahme-Kondensationsmaschinen mit je 25 Megawatt Maschinenleistung. Die Wärmeabgabeleistung des HKW wurde auf 300 Megawatt ausgelegt, was seinerzeit große Reserven für die Zukunft beinhaltete. Als Brennstoff wählte man – auch mangels Alternativen – Rohbraunkohle. Die Abgase führte man über zwei 100 Meter hohe Schornsteine ab. Diese beinhalteten Elektrofilter mit einem Abscheidegrad von 97 Prozent, um den Staubauswurf zu minimieren. Eine Entschwefelung der Rauchgase gab es nicht.

1957 erfolgte der erste Spatenstich. Die Baudurchführung oblag dem VEB Energiebau Radebeul. Der Bau begann 1958 auf der grünen Wiese. Die heutige Blankenburgstraße entstand im Zuge der Arbeiten zunächst als Baustellenzufahrt aus dem Nichts. Rund 100.000 Kubikmeter Ziegelbruch mussten abtransportiert werden – abgelagerte Trümmer der 1945 zerstörten Stadt. 1959 begannen die Bauarbeiten zum Werk selbst: Mutterboden abtragen, Baugrube ausheben, Anschlussgleise und Entwässerungen verlegen.

Die Anschlussbahn war also schon zu Baubeginn eine Lebensader des Heizkraftwerks. Die ersten über den Bahnhof Chemnitz-Glösa an das Schienennetz angebundenen Anschlussgleise waren 1959 bereits nutzbar. Lok- und Rangierpersonal zählen damit zu den ersten Belegschaftsmitgliedern des Heizkraftwerks!

Die beiden Stahlbetonschornsteine errichtete man im selben Jahr. Bis zu 900 Arbeiter waren während der Errichtung des Kraftwerks beschäftigt, mussten untergebracht und verpflegt werden. Allein diese Zahlen untermauern die logistische Meisterleistung, die hinter so einem Vorhaben seinerzeit gesteckt haben muss. Der Dauerbetrieb des Kessels 1 startete am 1. Dezember 1961. Zweistellige Minusgrade im Dezember’61 stellten das Personal im unfertigen, noch labilen, HKW I vor schwere Herausforderungen. Zum Reformationstag 1962 waren alle vier Hauptaggregate verfügbar.

[9] Um 1960 steht der erste Kühlturm, welcher 2024 noch existiert. Das Fundament für den Zweiten ist erkennbar. Dieser zweite hyperbolische Kühlturm musste 1975 gesprengt werden, da er nicht sanierungsfähig war. Der Blick nach Nordosten zeigt außerdem in Bildmitte den Dammweg noch in seiner ursprünglichen Lage – er musste später ein wenig nach Norden verlegt werden – und die ersten Anschlussgleise.

Schon das erste HKW hatte zwei Gleisanschlüsse zum Streckennetz der Deutschen Reichsbahn: einen über den Bahnhof Chemnitz-Glösa (WbC-Linie) und für die Kohleentladung einen zweiten direkt am Südkopf des Bahnhofs Küchwald. Über den Glösaer Anschluss war bald darauf auch das Plattenwerk des VEB Wohnungsbaukombinat „Wilhelm Pieck“ angebunden. Für das HKW Nord I wurde über diesen „unteren“ Anschluss hauptsächlich Asche abtransportiert sowie Hilfsstoffe, Baustoffe und Kraftwerksausrüstungen (z. B. Transformatoren) angeliefert.

[10] Südlich des Bahnhofs Chemnitz-Glösa entstand nach dem Bau des HKW eine Anschlussbahngemeinschaft, welche verschiedene Kombinate nutzten. Um die vielen Weichen fernbedienen zu können, errichtete man ein Relaisstellwerk (R1). Es war bis 31. März 2004 in Betrieb. Am folgenden Tag wandelte man den Streckenabschnitt Chemnitz-Glösa – Küchwald in eine Anschlussbahn um – der Bahnhof Chemnitz-Glösa und das R1 waren damit Eisenbahngeschichte. Der Zustand des R1 im Februar 2018.

Der Entladebunker im „oberen“ Anschluss an der Schönherrstraße war zweigleisig und konnte pro Gleis fünf Wagen fassen. Der Küchwaldbahnhof wurde beim Bau des HKW auf der Ostseite erweitert und umgebaut. Es entstand ein zweiständiger Lokschuppen sowie benachbart eine zweigleisige Auftauhalle, die je fünf Wagen gleichzeitig auftauen konnte. Die ersten Werklokomotiven waren zwei V 18 (LKM 261063 und 261065).

[11] Der Blick auf das HKW Chemnitz Nord I, die Kraftwerkssiedlung und den Südkopf des Bf Küchwald, aufgenommen ca. 1990. Die Gleisanlagen sind frisch umgebaut. Zu erkennen sind rechts neben dem Werklokschuppen das neue Stellwerk R2 und dahinter die Gleiswaage. Zuvor befand sich dort die erste Auftauhalle. Die Gleise führen zu den Entladebunkern. Auf gleicher Höhe verläuft dahinter parallel die KCCh-Linie zum Rangierbahnhof Chemnitz-Hilbersdorf auf separatem Bahndamm. (EVS, 1991)

Nach rund 35 Jahren nahm man das Heizkraftwerk Chemnitz Nord I am 4. April 1997 endgültig vom Netz. Der Abbruch der nicht mehr benötigten Anlagen erfolgte im Wesentlichen bis 2004.

[12] Im Zentrum dieser Aufnahme vom 29. Januar 2002 stehen die beiden 100 Meter hohen Schornsteine des HKW Chemnitz Nord I. Während die beiden Schlote schon fast fünf Jahre arbeitslos waren, herrschte im Küchwaldbahnhof noch Betriebsamkeit.
[13] Schon gut vier Jahre waren die Anlagen des HKW Nord I im Mai 2001 stillgelegt, aber sie existierten noch nahezu vollständig. Vorn die Kohlebrücke für den Brennstofftransport vom Entladebunker I zum Brecherturm. Im Hintergrund rollt die V 60 SWC-Nr.1 vom Entladebunker II in Richtung Küchwald.
[14] Unmittelbar nach der Querung der Schönherrstraße schließt sich der Entladebunker des HKW Nord I an. Das Sozialgebäude an der Blankenburgstraße im Hintergrund wurde Ende 2004 abgebrochen, der flache Verbindungsbau verschwand 2023.
[15] Der für Außenstehende sichtbare Abbruch des HKW Chemnitz Nord I begann im Jahr 2003. Der Blick über die Blankenburgstraße zum bereits unvollständigen Kesselhaus im November’03.
[16] Ein mittels Kran gehaltener Bagger knabberte die beiden Schornsteine im März/April 2004 ab. Ein beim Abbruch solcher Bauwerke herkömmliches Verfahren, wenn eine Sprengung nicht möglich ist.

Heizkraftwerk Chemnitz Nord II (1986-2024)

Trotz der beim Bau des ersten HKW eingeplanten Reserven zeichnete sich perspektivisch – u. a. durch den Neubau von Großwohngebieten – ein deutlich höherer Wärme- und Energiebedarf ab. Daher fiel der Entschluss, ein zweites, leistungsfähigeres HKW zu errichten. Die Standortwahl fiel auf Gelände unmittelbar nordöstlich neben dem ersten HKW in Furth, noch näher am Chemnitzfluss gelegen. Dies hatte Folgen für die WbCF-Linie und den Güterbahnhof Furth. Beides musste den neuen Kraftwerksanlagen bzw. einer umfangreichen neutrassierten Anschlussbahn weichen.

[17] Vom Güterbahnhof Chemnitz-Furth – bis 1933 Ladestelle – sind nur wenige Abbildungen bekannt. Eine Postkarte zeigt ein um 1910 entstandenes Motiv mit Blick im Verlauf des heutigen Fischweges nach Südosten. Jenseits von Güterschuppen und Bahnwohnhaus quert der Dammweg das Bahnhofsgelände. Die Fabrikgebäude im Hintergrund zählen zur Baumwollspinnerei und Warperei Furth, vorm. H. C. Müller auf der anderen Flussseite. Bild [29] zeigt nahezu dieselbe Stelle.

Die Grundsteinlegung erfolgte am 9. Oktober 1981. Nach fünf Jahren Bauzeit erfolgte am 15. Dezember 1986 die erste Wärmeabgabe an das Fernheiznetz vom Kessel 10. Dreizehn Tage später produzierte der Block 10 (später A) den ersten Strom. Die Errichtung des HKW Chemnitz Nord II gipfelte mit der Inbetriebnahme des dritten Blocks (30) im Juni 1990. Bereits am 19. Mai 1989 konnte die Rohwasserversorgung aus der Zschopau über eine unterirdische Trasse aus Frankenberg probeweise in Betrieb genommen werden. Im Dezember 1990 ging das HKW Chemnitz Nord II vollumfänglich in Betrieb, die Erzeugerstätte für 3x 160 Megawatt Wärmeabgabe und 3x 60 Megawatt elektrische Leistung auf der Grundlage der Wärme-Kraft-Koppelung.

[18] In der Kraftwerkszentrale steht dieses Modell im Maßstab 1 : 500. „Blick nach Süden“: Die linke Hälfte dominiert das HKW Chemnitz Nord II. Vorn die beiden zylindrischen Kühltürme. Am unteren Bildrand verläuft der Dammweg, rechts die Blankenburgstraße.

Bis zur politischen Wiedervereinigung zählte das HKW zum VEB Energiekombinat Karl-Marx-Stadt. 1990 erfolgte die Privatisierung zur Energieversorgung Südsachsen AG. Am 29. März 1996 übernahm die Stadtwerke Chemnitz AG den Betrieb des Heizkraftwerks Chemnitz Nord. 2010 fusionierte diese mit der Erdgas Südsachsen GmbH zur Eins Energie in Sachsen GmbH & Co. KG.

[19] Technologisches Schema der Prozesse im HKW Nord II (Faltblatt der Stadtwerke, 2003).
[20] Der Blick in Richtung Nordwesten auf das HKW Nord II im April 2002. Links der Entladebunker, dahinter die Kohlebrücke, die über den Brecherturm zum Kesselhaus führt. Rechts dahinter die Rauchgasentschwefelungsanlage, der Schornstein und die Silos für Gips und Asche. Im Vordergrund liegt das Gleis, das weiter zur Schönherrfabrik führte, siehe [8].
[21] Der 1981-1984 errichtete 301,80 Meter hohe Schornstein avancierte zum Wahrzeichen der Stadt. Von Oktober 2016 bis Januar 2024 war er der höchste in Betrieb befindliche Schornstein Deutschlands (links im April 2009, rechts im Februar 2018). Fünf Balkone sind für Wartungsarbeiten vorhanden. Nach oben gelangt man über einen Fahrstuhl.

Mit der Fertigstellung des HKW Nord II wurde um 1990 auch der Bahnhof Küchwald dem veränderten Bedarf angepasst. Im Anschlussbahnbereich wurde die alte zweigleisige Auftauhalle abgebrochen und stattdessen das Stellwerk R2 und eine Gleiswaage errichtet, siehe [11][22]. Als Ersatz errichtete man einen längeren eingleisigen Auftauschuppen in Höhe der Bahnhofsgleise am Ostrand des Bahnhofs. Der zweigleisige Anschluss zum Entladebunker wurde um eine Brückenkonstruktion im Gleisbogen – parallel zum Bahndamm der KCCh – verlängert, an die sich der neue Entladebunker anschließt, siehe [13][18][23].

[22] Das Rangierstellwerk 2 im Bahnhof Küchwald ging 1991 offiziell in Betrieb.
[23] Der Blick auf den Entladebunker und den Lagerplatz für die Rohbraunkohle im Juli 2022. Im Regelfall wurden zehn Selbstentladewagen (Falns) gleichzeitig entladen. Die ersten Wagen konnten am 22. November 1986 geleert werden. Später nutzten auch die Kalkzüge diesen Ort zur Entladung. Die Rohbraunkohle wird aus den Bunkertaschen mit zwei sogenannten Bunkerentleerungswagen auf Gurtbandförderer gegeben.
[24] 1984 bis 1987 beschaffte der VEB Energiekombinat Karl-Marx-Stadt drei Meininger Dampfspeicherloks, welche die Werkloknummern 6 bis 8 erhielten. Sie standen bis Mitte 1992 im Einsatz. Lok Nr. 6 (Mei 03020) behielten die Stadtwerke Chemnitz als Denkmal. Mitte der 1990er-Jahre war sie nahe des Besuchereingangs von der Blankenburgstraße aus sichtbar. Im Februar 2000 hatte sie diesen, von außen nicht einsehbaren, Platz nahe des Kohlelagerplatzes auf Gleis A52 eingenommen. Einst wurde hier die Asche vom HKW I mittels Portalkran verladen.
[25] Streng genommen lieferte man die Nr. 6 im September 1984 zunächst an den benachbarten VEB WBK (Plattenwerk). Mitte 2003 zog man die Nr. 6 dann wieder an eine öffentlich gut einsehbare Stelle unterhalb des zylindrischen Kühlturms am Dammweg. Vor einer erneuten optischen Aufarbeitung drehte man die Maschine Ende 2003 um 180°, sodass der Kessel nun in Fahrtrichtung Chemnitz-Glösa zeigt. Die Zufahrt zu diesen Anschlussgleisen (A51-53 und A66) baute man Mitte 2004 zurück. 2020 erhielt die Feuerlose wieder eine optische Aufarbeitung. (Bilder von September 2003 und Februar 2004)
[26] Mitte 2011 begann man damit, den großen Schornstein zu sanieren und farblich zu gestalten. Zunächst war der Plan, den Schornstein absteigend von lichtgrau bis dunkelgrau zu lackieren. Diese dezente Variante wurde 2012 wieder verworfen, nachdem die oberen beiden Abschnitte schon fertiggestellt waren. Der Plan B ist bekannt. Auch wenn das Bauwerk am 18. Januar 2024 seinen eigentlichen Zweck verloren hat, ist seine Zukunft mittelfristig gesichert.

Nach einer Havarie in Block A (1995 umgestellt auf Erdgas/Heizöl) waren ab 2017 noch die beiden Kraftwerksblöcke 20/B und 30/C in Betrieb, welche bis zuletzt mit Rohbraunkohle betrieben worden sind. Der Kraftwerksblock C sollte zunächst über 2023 hinaus bis Ende 2029 weiterbetrieben werden. Gestiegene CO2-Preise (Emissionszertifikate) seien Mitte 2021 der Auslöser für die Entscheidung des Betreibers Eins Energie in Sachsen gewesen, diesen – genau wie Block B – bereits Ende 2023 vom Netz zu nehmen.

Doch wo kommt die Energie für Wärme und Strom künftig her? Zwei Gasmotorenkraftwerke ersetzen das HKW Chemnitz Nord II. 2020-2022 entstand auf dem Terrain des früheren HKW Chemnitz Nord I ein mit sieben gasbefeuerten Motormodulen ausgestattetes Kraftwerk. Ein zweites Gasmotorenkraftwerk/MHKW mit fünf Motormodulen nahm im Dezember 2022 in Altchemnitz – am Standort des 1977-1981 errichteten Spitzenheizwerks – den Probebetrieb auf. Beide MHKW sind seit September 2023 im Dauerbetrieb. Das Gas wird „an der Börse“ gekauft – LNG-Lieferungen aus aller Welt … viel umweltfreundlicher als heimische Braunkohle …

[27] Am einstigen Standort des HKW Chemnitz Nord I entstand ab 2020 ein Gasmotorenkraftwerk. Rechts befindet sich mit dem Entladebunker Anfang 2024 noch immer ein Relikt des Vorgängers.

Schienengüterverkehr für das Heizkraftwerk Chemnitz Nord

Die folgenden Kapitel geben eine Schnellübersicht, welche Stoffe mittels Eisenbahn an- und abtransportiert worden sind. Dies ist eher als „Teaser“ für kommende Teile der Beitragsreihe zu verstehen. Auf eisenbahnbetriebliche Abläufe wird künftig jeweils ausführlich eingegangen werden.

Der Braunkohletransport

Der wichtigste Brennstoff für das HKW Chemnitz Nord war reichlich sechs Jahrzehnte lang die Rohbraunkohle. Bezogen wurde sie die meiste Zeit aus dem Mitteldeutschen Revier, zeitweise auch aus der Lausitz.

[28] Im Februar 2008 bildeten noch die Ende der 1980er-Jahre in Rumänien für die DR produzierten Falns 165 das Rückgrat im Braunkohletransport. Das Erscheinungsbild der Wagen wurde Ende der 2000er-Jahre immer mehr von Vandalen beeinträchtigt.

Leichtes Heizöl für Block A

1995 wurde der Dampferzeuger von Block A des HKW Chemnitz Nord II auf eine bivalente Feuerung für Erdgas und leichtes Heizöl umgerüstet. Nördlich des Werkes errichtete man zu diesem Zweck ein Tanklager. Nach einer Havarie im Mai 2016 wurde dieser Block A im Jahr 2017 endgültig stillgesetzt. Bis 2019 nutzten noch Privatkunden das Tanklager am Dammweg. Im Herbst 2023 wurde es dem Erdboden gleichgemacht.

[29] Die Abstellgleise am Dammweg (frühere Wagenübergabestelle) waren gut ausgelastet, wenn ein Ölzug zu entladen war. Am Abend des 22. Dezember 2010 hat Lok Nr. 3 „Öldienst“. Drei Wagen konnten zeitgleich entladen werden.

Der Kalktransport

Im Februar 1988 unternahm man erste Versuche, durch Zusatz von Kalksteinmehl, die Rauchgase teilweise zu entschwefeln. Die Installation einer Rauchgasentschwefelungsanlage verlangte ab Oktober 1996 regelmäßige Kalklieferungen. Der Rohstoff wurde vom Kalksteinbruch Rübeland bezogen und in Ganzzügen angeliefert.

[30] Häufig erreichten die Kalkzüge den Bestimmungsort im Schutz der Dunkelheit. Den Leerzug nach Blankenburg (Harz) konnte man mit etwas Glück an einem Sonntagnachmittag erwischen. So auch am 4. April 2004 mit 232 448 als Zuglok. Über den Lüftern der 232 ist die Rauchgasentschwefelungsanlage gut erkennbar.

Säure zur Wasseraufbereitung

Um das Flußwasser aus der Chemnitz und der Zschopau* verwenden zu können, muss es einer umfangreichen chemischen Reinigung unterzogen werden (Flockung, Filtration, Enthärtung etc.). Vor der Rückführung in die Chemnitz muss das H2O wieder mit Ionen angereichert werden. Für diesen Zweck wird Säure benötigt. Bis 2011 auch eine Aufgabe der Eisenbahn.

(*In Frankenberg wird der Zschopau Brauchwasser entnommen, das über eine 9,3 km lange unterirdische Leitung zum HKW gelangt!)

[31] Lok Nr. 1 schiebt einen Kesselwagen mit Säure über den unbeschrankten Bahnübergang Dammweg zum Anschluss der Brauchwasseraufbereitung (Gleis A54). Ein Rangierer sichert die Straße mit Sh2-Flagge. Es dauerte Jahre, diese Bedienung dokumentieren zu können. An diesem 8. März 2010 gelang es mir erstmals.

Abfallprodukte: Asche und REA-Gips

Mit der 1996 in Betrieb genommenen Rauchgasentschwefelungsanlage (REA) entstand das Abfallprodukt Gips. Neben der Bahn übernahm auch der LKW zu einem beträchtlichen Teil die Abfuhr. Nass-, Filter- und/oder Trockenasche fielen zu allen Zeiten des HKW an und werden seit 2005 vollständig von LKW abtransportiert.

[32] Der Ladevorgang unter dem Gipssilo ist am 13. September 2010 abgeschlossen, denn die Abdeckungen der Wagen sind bereits geschlossen. Lok Nr. 3 und V60 001 am Zugschluss werden die sieben beladenen Wagen nun über die Spitzkehre in Glösa nach Küchwald befördern.
[33] Zum Jahresende 2017 erreichten das HKW nochmals drei Staubbehälterwagen (Uacs). Sie waren als Notreserve für eine kurzzeitig hohe Ascheabfuhr bestellt worden, um den LKW-Transport zu entlasten. Zum Einsatz kamen sie nicht, und wurden im März 2018 leer wieder rücküberführt. Vergleicht man mit der Aufnahme [20] erkennt man die Entwicklung des Baumbestandes und den hinzugekommenen Chemnitztalradweg.

Fortsetzung geplant!

Epilog

Wir schreiben den August 2024. Wie sich mittlerweile herausstellte, hat man ca. 16.000 Tonnen heimische Braunkohle, die bis 31. Dezember 2023 im HKW per Bahn eintraf, bis zur „Live-Abschaltung“ am 18. Januar 2024 nicht mehr verfeuert. Diese 16.000 Tonnen Kohle werden jetzt mit hunderten Fahrten von Lastkraftwagen wieder abtransportiert. Auch die Gleise im Entladebunker sind bereits zurückgebaut. Jeder möge sich selber ein Urteil über diese Energiepolitik bilden …

Abkürzungsverzeichnis

EVS = Energieversorgung Südsachsen AG
E-Werk = Elektrizitätswerk
HKW = Heizkraftwerk
KCCh = Strecke Küchwald – Chemnitz-Hilbersdorf Rbf
LKM = VEB Lokomotivbau „Karl Marx“, Babelsberg
LNG = Liquified Natural Gas, dt. „verflüssigtes Erdgas“
MHKW = Motorenheizkraftwerk (in anderen Kontexten oft für „Müllheizkraftwerk“ verwendet)
REA = Rauchgasentschwefelungsanlage
SWC = Stadtwerke Chemnitz AG
VEB = Volkseigener Betrieb (Rechtsform in SBZ und DDR für Industrie- und Dienstleistungsbetriebe)
WbC = Strecke Wechselburg – Küchwald (Chemnitztalbahn)
WbCF = Strecke Chemnitz-Glösa – Chemnitz-Furth
WBK = VEB Wohnungsbaukombinat

Quellenverzeichnis & Literaturhinweise

Ein herzlicher Dank an Siegfried Bergelt, Thomas Böttger und Thomas Hälsig für zur Verfügung gestellte Informationen und Bildmaterial. Ebenfalls herzlich gedankt sei den SWC-/AHG-Anschlussbahnern, die viel Toleranz – oft sogar Akzeptanz – gegenüber interessierten Außenstehenden gezeigt haben!

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2 Antworten

  1. Dieter Kuhnert sagt:

    Sehr interessante Zusammenfassung der Geschichte um HKW I und II. Auch das verwendete Bildmaterial war mir von den Motiven und einzelnen Foto-Standorten her nicht vollständig bekannt. Habe von 1968 – 1970 bei der EV gelernt und wir waren neben Baustellen in und um Karl-Marx-Stadt auch im HKW im Einsatz.

    Eine Frage und Bitte zugleich hätte ich: Könnte dieser Beitrag auf der geschlossenen Website (nicht öffentlich) der Hobbyhistoriker (von Chemnitz) eingestellt werden?

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